Vom gelingenden Leben

Die Wahrscheinlichkeit war groß, sich im Heim einen Habitus zu erwerben, der eher dem Scheitern als dem Erfolg förderlich war. Strategien zur Alltagsbewältigung, Bildung und Selbstwertgefühl wurden in einem geringen Maß erfahren. Es wurden Verhaltensweisen und Mentalitäten erlernt, die erst recht verhaltensauffällig machten. Die finanzielle Gegenwart und ökonomische Zukunft nach der Heimentlassung sah alles andere als rosig aus. War bereits das Herkunftsmilieu in der Regel nicht dazu angetan, einen sozialen Aufstieg zu erleichtern, so konnten die InsassInnen in der geschlossenen Heimgesellschaft, in der sich fast nur Kinder aus unterprivilegierten Schichten zusammengepfercht wiederfanden, keine Kontakte knüpfen, um ein soziales Netzwerk zu bilden, mit dessen Hilfe Zugang zu guten Positionen in der Arbeitswelt und Gesellschaft gefunden hätte werden können.

Viele Lebenswege ehemaliger Heimkinder sind gescheitert. Die Befragten dieser Studie sind trotz mannigfacher Probleme, denen sie sich in der Vergangenheit ausgesetzt sahen und immer noch sehen, als Menschen zu betrachten, die aus ihrem Leben im Rahmen des Möglichen etwas gemacht haben und weiterkämpfen, um es würdig und erfüllter zu gestalten. Sie sind in der Tat Opfer, aber eben nicht nur. Den interviewten Männern wie Frauen ist es wichtig zu betonen, dass trotz der Heimvergangenheit und den sich daraus ergebenden negativen Auswirkungen etwas aus ihnen geworden ist. Festzuhalten wäre, dass die gelungenen Teile der Lebensentwürfe nicht Dank, sondern trotz der öffentlichen Erziehung erreicht werden konnten. Mit Genugtuung verweisen einige darauf, dass sie es allen gezeigt hätten, was ein Zögling und Heimkind zu leisten imstande ist. Dabei spielen vor allem bei Männern die Berufswege eine herausragende Rolle. Bei Frauen kam noch hinzu, ob die Kindererziehung und Partnerschaft einigermaßen positiv erlebt wurden. Stolz zeigten sich einige darüber, sich selbst Bildung angeeignet zu haben, wenngleich dieses Erkennen des eigenen Potentials meist mit dem Bedauern verbunden war, dass sie es nicht genügend für sich und den Wunschberuf nutzen konnten. Da ehemalige Heimkinder bereits sehr früh auf sich alleine gestellt waren, konnten einige von ihnen eine besondere Ich-Stärke entwickeln und so ihre eigene Leistungsfähigkeit und Willensstärke narzisstisch besetzen. Dadurch waren sie befähigt, ihre Aggressionen produktiv umzulenken und besonders schwierigen Herausforderungen standzuhalten. Was aus Sicht der Betroffenen ausschlaggebend war, um sich zumindest teilweise vom Ballast der Heimerziehung so weit zu befreien, dass sie eigene Lebensentwürfe realisieren konnten, lässt sich mit einem Satz von Karlheinz L. zusammenfassen: „Alleine schafft man es nicht, das ist unmöglich.“

Ausnahmslos alle gaben an, dass die Begegnung mit Menschen für sie das Wichtigste war, die auf verschiedenster Ebene Hilfe und Verlässlichkeit boten oder noch besser Zuneigung und echte Freundschaft. Der Partner, die Frau, die zu einem hält, die Kinder, um die man sich kümmert, die Familie, die zusammenschweißt, die FreundInnen, die einen nicht fallen lassen, dies alles stellen Meilensteine gelingenden Über-Lebens dar. Erschwerend ist aber hierbei, dass das Heim die Kinder zu ausgesprochenen EinzelkämpferInnen erzog.

Viele InterviewpartnerInnen nennen von ihnen zutiefst positiv besetzte Personen, die ihnen als Heranwachsende kurz- oder längerfristig Schutz geboten hatten. Dies half, innere Objektbeziehungen aufzubauen, die Halt und Selbstwert gaben. Eine weitere existenzielle Bedeutung haben professionelle Hilfen, Therapien. Seit 2010 konnten sich Sebsthilfe- und Gesprächsgruppen bilden, in denen sich ehemalige Heimkinder unter psychologischer Moderation, infolgedessen aber auch alleine, treffen und austauschen können. Der Glaube wird als Stütze selten erwähnt, spirituelle Sinnsuche ab und zu. Positiv wirkt sich auch ein Engagement für andere aus, das mehrere der Befragten schildern. Dazu meint Hermine Reisinger: „Ich bin heute kein Opfer mehr, sondern ich will Opfern helfen.“