Der Hintergrund des Denkens und Handelns von Maria Nowak-Vogl und ihre Schlüsselstellung im Fürsorgesystem
Das heutige medizinische Sonderfach „Kinder- u. Jugendpsychiatrie“ existierte zur Zeit der beruflichen Tätigkeit von Maria Nowak-Vogl ebensowenig wie verbindliche fachliche Standards. Das fachspezifische Diagnosemanual (MAS) erschien erstmals 1977 in deutscher Übersetzung.
Die Kinderheilkunde, die für die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie relevant ist, verfolgte in ihren Anfängen eine sozialpsychiatrisch-psychodynamische und eine biologisch orientierte Richtung. In den unmittelbaren Vorläufern der Kinder- und Jugendpsychiatrie setzten sich die eugenisch-erbbiologischen Positionen durch. Das Fach konstituierte sich in der Zeit des Nationalsozialismus mit den bekannt mörderischen Auswirkungen. Diese biologistischen Konzepte wurden auch nach dem Ende des Nationalsozialismus nicht hinterfragt, die Aufarbeitung ließ jahrzehntelang auf sich warten.
Dementsprechend ungebrochen lebten Begriffe wie „Asozialenfrage“, „Gemeinschaftsunfähigkeit“, „soziale und rassische Minderwertigkeit“ in der Heilpädagogik und der (Kinder)Psychiatrie weiter. Wissenschaftliche Arbeiten, die Gutachten und die Behandlungspraxis von Maria Nowak-Vogl sind von diesem Denken durchzogen. Während in Wien in den 1970er-Jahren Reformen zur Heimerziehung ihren Anfang nahmen und 1975 die Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters eingerichtet wurde, war die Entwicklung in Tirol weiterhin durch Maria Nowak-Vogl als Vertreterin der konservativen, biologistischen Position geprägt, die den Prinzipien von Law and Order verpflichtet blieb.
Die Jugendwohlfahrt mit ihren Jugendämtern, die Erziehungs- und Kinderheime und die Kinderbeobachtungsstation waren die bestimmenden Kräfte des Fürsorgesystems in Tirol. Maria Nowak-Vogl nahm in diesem System eine absolut dominierende Stellung ein. Als anerkannte wissenschaftliche Autorität, die an der Philosophischen und Medizinischen Fakultät lehrte, und durch ihre Multifunktionen: als Leiterin (Primaria) der Kinderbeobachtungsstation, als Gutachterin an ihrer Station und vor Gericht, aber auch als Fürsorge- und Konsiliarärztin. Sie war es, die über die Behandlung und den weiteren Lebensweg von Heim- und Pflegekindern ebenso entschied wie über Kinder, welche die Jugendämter und private Einrichtungen der Fremdunterbringung zu ihr überwiesen.
In der Jugendfürsorge führte in Tirol, wie auch in Vorarlberg, kein Weg an ihr vorbei. Dazu kommt, dass sie die aus der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik in ein eigenes Haus in Hötting ausgegliederte Kinderbeobachtungsstation als Primaria bis Ende der 1970er-Jahre nach eigenem Gutdünken leiten konnte. Nicht zuletzt wegen der unklaren Zuständigkeit blieb die Kontrolle ihrer Tätigkeit mehr als mangelhaft.