Aus: Gesprächen mit Betroffenen 2011

 

Um 1960: In Kramsach war es furchtbar, diese Anstalt hat mich am meisten negativ geprägt. Zwei Jahre war ich drinnen, mit 12/13. In diesem Heim war man alles, nur kein Mensch. Wegen jeder Kleinigkeit wurde gestraft. Du hast nicht einmal gewusst warum. Schuldgefühle haben sie dir eingeimpft, kein Selbstwertgefühl, nur Schikanen, Beschimpfungen, Misshandlungen und unaufhörlichen Demütigungen. Auch von einer Mitgefangenen bin ich geschlagen worden, da ist niemand dazwischen gegangen.

Wenn wer auf Flucht gegangen ist, wurden der die Haare abgeschnitten oder wir mussten sie selbst schlagen als Strafe. Die Angst dabei kann man sich nicht vorstellen, einige von uns wurden aber auch regelrecht brutal gemacht. Gruppenstrafen waren üblich, auch wenn gar nichts war. Immer konnte irgendwas sein, aus heiterem Himmel.

 

Ende der 1960er Jahre: Wenn ich angeblich irgendwas angestellt habe, gab es Schläge oder ich wurde lange Zeit in einem Raum eingesperrt. Eigentlich bin ich dann isoliert worden, sprechen durfte auch niemand mit mir. Mehrmals bekam ich zu hören: „Wenn Adolf leben würde, hätten sie dich vergast oder in ein Arbeitslager gesteckt.“

Aus: Horst Schreiber, Im Namen der Ordnung

Landeserziehungsheim Kramsach 1960–1964: „Wie kann man denn einem Kind einen Hund raufhetzen.“ 

Die Jahre im Kramsacher Mädchenheim von 1960 bis 1964 sind Mercedes Kaiser unauslöschlich im Gedächtnis geblieben. In regelmäßigen Abständen, mindestens zwei oder drei Mal im Sommer, besucht sie das Gelände des Heimes mit ihren Enkelinnen, denen sie von ihren Erlebnissen berichtet – unter Auslassung der allermeisten Grausamkeiten. (...) Die Direktorin, „eine kleine Dürre“, habe ihren Foxterrier auf die Kinder gehetzt. Ein Pfiff und das Tier sei die Treppen hinaufgesprungen und den Mädchen nach. Bisse in die Waden waren eine Normalität: „Wie kann man denn einem Kind einen Hund raufhetzen. Der Hund ist den ganzen Tag herumgeflitzt, weil er uns dauernd bissen hat. (...) Heute noch, wenn ich einen Foxterrier sehe, werde ich steif. Oder wenn ich eine Saugglocke sehe für die Toilette, weil ich bin Klostampfer genannt worden, das war mein Spitzname und die Schwester Gertraud, das können Sie notieren, die hat einen großen Haargagl gehabt, die war die wildeste, das war ein richtiges Mistvieh.“

In Kramsach sei es üblich gewesen, dass die Erzieherinnen den Mädchen einen demütigenden Spitznamen gaben, den alle Kinder der Betroffenen gegenüber statt des Vornamens verwenden hätten müssen, wollten sie einer Sanktion entgehen. Als Mercedes eines Tages zum Kloputzen verdonnert wird, ist die Verunglimpfung für sie gefunden: Fortan wird sie immer wieder entsprechend der Saugglocke, die sie benützt, Klostampfer genannt. Mercedes Kaiser erinnert sich an Spitznamen wie Drecksau, Misthaufen, Schweinskopf, Triefauge. Die Kinder seien nicht von selbst auf solche Gedanken gekommen, sondern erst durch die Erzieherinnen, „die sind von ihnen grausam gemacht worden.“

Misthaufen wird ein Kärntner Mädchen mit langen, dicken Zöpfen genannt, die von einem Bauernhof kommt und deren Kleidung beim Eintritt ins Heim danach riecht. (...) Die Kärntnerin hält es in diesem Heim nicht aus und versucht zu fliehen. Binnen kurzer Zeit wird sie von der Exekutive aufgegriffen. Was sich daraufhin abspielt, erzählt Mercedes Kaiser so: Die Direktorin schleift das Kind an den Zöpfen in den Speisesaal, in dem sich alle Zöglinge versammeln müssen. Ihnen wird vorgeführt, was ihnen blüht, wenn sie die Flucht ergreifen. Das Mädchen wird geschlagen und getreten. Mercedes ist solche Prügel gewohnt. Gedroschen worden sei mit der flachen Hand, mit Fäusten und Füßen, Stöcken, Ruten und einem Kehrwisch. Als Gegenstrategie hätten die widerspenstigen Kinder trotz ihrer Schmerzen gelacht, um die Erzieherinnen herauszufordern und ihre Würde zu bewahren. Doch in diesem Fall beteiligen sich mehrere Betreuerinnen auf einmal und geraten außer sich vor Wut. Schließlich schneiden sie dem Mädchen die Zöpfe ab. Am Ende steht das Mädchen mit einer Glatze da: „Die hat fürchterlich ausgesehen, wie eine gerupfte Gans.“ Als Draufgabe erhält sie verschärften Essensentzug, sie sei ohnehin fett genug, habe sie zu hören bekommen.

Die Strafen für Einnässen sind ebenso drakonisch: Die Kinder seien vor den anderen nackt bloßgestellt und mit kaltem Wasser geduscht worden. Das beschmutzte Leintuch müssen sie selbst waschen. (...) Abends beim Zubettgehen ist einer der beliebtesten Wettkämpfe unter den Mädchen das Zählen der blauen Flecken und der meisten kahlen Stellen am Kopf. Der Umgang unter den Zöglingen sei rau gewesen. Dafür hätten schon die Erzieherinnen gesorgt. (...)

Wer jammert, habe eine „Gnackwatschn“ bekommen: „Du hast nichts sagen dürfen, sonst hast du noch eine drauf bekommen. Das hast du alles verschweigen müssen. Wenn du etwas erzählt hast, hast nur du büßen müssen. Es ist dir eingebläut worden, dass du nichts erzählst. Jeder Brief ist ja zensiert worden. Die ausgerissenen Haare hast du gesammelt und beim Besuchstag heimlich in den Stiefeln versteckt, um sie den Eltern zu geben, wenn du es geschafft hast. Aber die haben immer gehorcht und geschaut wie die Haftlmacher. Eine ist immer auf und ab gegangen wie ein Gefängniswärter. Sie sind zu dritt oder viert gewesen, damit wir nichts in Ruhe reden können.“ (...)

Eine besonders häufig verhängte Strafe schmerzt die Kinder besonders: Essensentzug und das Streichen des einzigen Nachtisches in der Woche am Sonntag. Im Heim habe nämlich Hunger geherrscht. Mercedes sei unterernährt aus dem Heim gekommen und deshalb auf Erholung geschickt worden. Sie erzählt, wie die Mädchen die „grünen Zapfelen“ von Bäumen gegessen haben, weil sie nach Honig dufteten. Danach mussten sie sich erbrechen: „Wir haben sehr wenig zu essen gekriegt.“ In der Früh einen Malzkaffee und ein Butterbrot, sonntags, wenn man brav war, Marmelade dazu. Zur Jause gab es eine Scheibe trockenen Brotes und einen Apfel. Im Sommer pflücken die Mädchen die Obstbäume und „stehlen“ sich ein paar Früchte. Der Nachtisch am Sonntag ist heiß begehrt, meist ist es ein Obst oder ein Pudding. Bei den kleinsten Vergehen wird er gestrichen. Sie selbst habe deshalb fast nie einen Nachtisch ergattert, da sie ein lebhaftes Kind gewesen sei. Unter den Mädchen habe es von den Erzieherinnen angestiftete „Spioninnen“ gegeben, welche die Kameradinnen verpetzten, um auf diese Weise Vergünstigungen, etwa den Nachtisch einer der Denunzierten, zu bekommen. In Anbetracht der allzu knapp bemessenen Ernährung zeugen die Strafen bei Tisch von besonderer Härte gegenüber den Kindern. Ein paar Dutzend Mädchen, rund 60 bis 80 im Durchschnitt, sorgen für eine beachtliche Geräuschkulisse. Doch sobald der Pfiff der Erzieherin ertönt, hat sich augenblickliche Ruhe einzustellen, besonders beim Antreten in Zweierreihen, um Essen zu fassen. Wer geschwätzt habe, sei mit Essverbot belegt worden und mit verbundenen Augen am Tisch gesessen. Bei einem größeren Vergehen habe der Zögling zum Gespött der anderen Kinder während des Mahls auf einem Stuhl gestanden, mit einer Hexenmaske aus Gummi auf dem Kopf, die das Atmen erschwerte.

„Dir gehörte nichts“, seufzt Mercedes Kaiser und erinnert sich noch heute bildlich an das einzige Paar neuer Patschen, das sie im Heim erhalten hat. „Und die habe ich beim Schlafen auf die Brust her gelegt, damit sie nicht gestohlen werden und sie mir keiner mehr nimmt. So eine Freude habe ich gehabt. Das war ein Schatz für mich.“ (...)

Das Erziehungsheim in Kramsach erweist sich für Mercedes nicht als ein Ort des Schutzes vor den Übergriffen, die sie in ihrer Familie erleben musste, sondern als Fortsetzung dieser Tortur mit noch drastischeren Mitteln: „Du bist Abfall gewesen eigentlich. ‚Und warum haben eure Eltern euch hergeschickt, weil sie euch nicht mögen haben.‘ Ist dir das immer vorgeworfen worden. Und du bist immer selber schuld. Du warst immer selber schuld. (...). Ich habe nur mehr die Schuld bei mir gesucht. Immer. Auch heute noch.“

Ein gutes Wort, Trost oder gar liebevolle Berührungen habe sie in Kramsach kaum erfahren. Die Kapelle ist für sie ein Zufluchtsort, wo sich seltene Momente des Rückzugs ergeben. Dort erzählt sie ihrer Freundin ihre Sorgen, dort teilen die beiden Kinder Kummer und Leid und umarmen sich. „Wir sind oft im Wald gehockt und wenn eine Familie mit einem Kinderwagen vorbeigekommen ist, habe ich gesagt: ‚So war auch meine Familie und wenn ich groß bin, habe ich auch so eine Familie.‘ Das war mein Wunsch als Acht- und Neun- und Zehnjährige.“ Ihr Resümee über das Erziehungsheim in Kramsach fällt bitter aus:

„Wir waren Abschaum, hat es immer geheißen. Wir waren Abschaum des Abschaumes. So sind wir von den Erzieherinnen geheißen worden. Und das musst du einem Kind immer einimpfen. Du kriegst Komplexe. Und wenn ich nicht immer so ein temperamentvoller Mensch gewesen wäre, ein sensibler Mensch zerbricht ja völlig dran. Wenn ich nicht so eine Kämpferin gewesen wäre, ich hätte das nicht überlebt. Ich war immer eine Kämpferin.“ (...) Aber: „Ich glaube, wenn du 100 Jahre alt wirst, das bringst du nie mehr weg, das bringst du bei keinem mehr raus.