Aus Horst Schreiber, Im Namen der Ordnung

Landeserziehungsheim Kleinvolderberg 1957–1960: „… hat man mir ein Tor aufgestoßen für eine kriminelle Karriere.“

Ihr Schreiben vom 20.5.2010 habe ich dankend erhalten und eröffne mit der Niederschrift meines Lebenslaufes den Reigen exzessiver Gewalt, so wie ich es damals Ende der 50er und zu Beginn der 60er Jahre im Fürsorgeheim (Stachelburg) in Kleinvolderberg Tirol erlebte und schreibe Ihnen nach bestem Wissen und Gewissen genau alles auf, so wahr mir Gott helfe. Von Herzen würde ich mir wünschen, dass endlich mal jemand aufzeigt, wie man durch falsche Erziehung Kinder zu Verbrechern macht. Allein die asoziale Vorverurteilung durch das Jugendamt Innsbruck, vermischt mit Abenteuerlust, wie es bei mir zutrifft, war so arg, dass ich nie mehr in meinem Leben Fuß fassen konnte. Auch kein Zufall ist, dass ich die Zöglings-Belegschaft Kleinvolderberg immer wieder im Gefängnis traf.

Kurz meine Vorgeschichte und warum ich ins Fürsorgeheim kam. 1941 mitten im 2. Weltkrieg wurde ich als drittältester Sohn von sechs Geschwistern in Innsbruck geboren. In dieser Zeit musste meine Mutter allein für sechs Kinder sorgen, stolz war sie auf ihr Mutterkreuz, zu essen gab es wenig und wenn, nur gegen Lebensmittelkarten und die waren rar. 1947 kam Vater von der Kriegsgefangenschaft heim, ausgebrannt, psychisch krank, Alkoholiker. Täglich gab es Stress, zwei Familien in einer Wohnung, Polizei ständig präsent. Für uns Kinder eine fürchterliche Zeit, die Folge war Ausgrenzung. Wenn er betrunken war und das war er Jahre hindurch, verprügelte er die ganze Familie, wir hatten alle Angst, die Not war unbeschreiblich, dazu kommt noch Lieblosigkeit, keine Familienzusammengehörigkeit. Ich frage mich heute noch, warum da das Jugendamt nicht Einhalt geboten hat.

Als meine Schulzeit fertig war, musste ich den Fleischerberuf lernen. Vater bestand darauf, damit zu Hause ein Fresser weniger sei. Aber mir ekelte vor der Metzgerei und ich flüchtete. Mein Ziel war Frankreich. Die französische Armee (Fremdenlegion) suchte damals Freiwillige. Jugendliche konnten Sprache und Beruf lernen, später Offizier werden. Das war meine Welt, das gefiel mir. An der deutschen Grenze bei Lindau wurde ich von einer englischen Militärstreife aufgegriffen und der österreichischen Gendarmerie übergeben. Nach 3 Wochen Haft verfügte im Sommer 1957 das Jugendamt Innsbruck, dass ich ins Fürsorgeheim Kleinvolderberg kam.

Bei meiner Ankunft wurde ich gleich als Früchtchen eingestuft und als Strafe, weil ich meine Lehre abgebrochen habe und davongelaufen bin, musste ich gestreifte KZ-Kleider anziehen. Blau-weiß gestreift, der Länge nach. Sie haben genau so ausgesehen, wie man es heute noch in alten Doku-Filmen aus der Nazizeit sehen kann. Anschließend kam ich in eine geschlossene Abteilung, da gab es dann die ersten „gsundn Haustätschn“. Am nächsten Tag wurde ich sofort zum Arbeitsdienst eingeteilt, mit anderen Jugendlichen musste ich 12 Stunden am Tag irgendwelche stupide Arbeiten verrichten: Werbematerial kleben, falten, einsacken, auch tonnenweise Porzellan-Klemmen mussten aussortiert werden. Dabei sind wir wie Sklaven behandelt worden. Nachts wurde das fertige Material abgeholt und Neues gebracht. Sprechen oder unterhalten während der Arbeitszeit oder auf’s Klo zu gehen, war strikt verboten. Jede geringste Verfehlung wurde geahndet, oft hagelte es nur so von Fausttätschn und immer auf den Kopf, so wurden wir gefügig gemacht. Die Folgen waren ständige Kopfschmerzen, dafür interessierte sich aber niemand. Mit zusätzlichen Prügeln brachten sie jeden auf Vordermann.

Einige Erzieher verwendeten auch Schlagstöcke, wenn man seine Arbeit nicht schaffte, oder man wurde gleich zum Haupterzieher gezerrt. Da gab es dann Hiebe mit einem Ochsenfisel, das ist ein eigens präparierter Ochsenschweif, ca. ein Meter lang, alle paar Zentimeter mit feinem Draht umwickelt. Egal, wo die Spitze dieser Waffe traf, platzte die Haut und Blut spritzte. Aus der Geschlossenen gab es kein Entkommen, niemand hörte unsere Schreie. Wer nachts weinte, den holte der Nachtdienst aus dem Bett. Die folgenden Übergriffe waren unterschiedlich, jeder Erzieher hatte da seine eigenen Methoden, einige Beispiele: bei den Haaren reißen, Ohren zerren, mit ausgestreckten Händen Bücher stundenlang halten, bevorzugt war auch die Knielage und den nackten Po versohlen oder Kopfnussen. Dem Heimleiter seine Leidenschaft waren die Unterhosen der bösen Buben. Nachts schlich er durch die Schlafräume, meist um vier Uhr früh und kontrollierte unter der Decke, ob einer mit der Unterhose schlief, weil das so ungesund sei. Auch bei mir wurde kontrolliert und ich wachte nachts einige Male auf, da hatte der D. mein Glied im Mund. Andere Erzieher waren geradezu besessen und achteten nur darauf, bis einem ein Fehler unterlief, um sofort erzieherische Schläge austeilen zu können. Die komplette Erziehung bestand nur aus Gewalt, von Aufklärung oder Belehrung nicht die geringste Spur. So wurden wir in kürzester Zeit zu willenlosen Geschöpfen gemacht. Heute würde man da von Gehirnwäsche sprechen. Meinen Eltern ließ man ausrichten, ich sei unerziehbar, so winkten sie gleich ab, wenn ich mich beschweren wollte. Heute bin ich der Meinung, mir hat man nicht Teufel ausgetrieben, sondern zehn Teufel hineingeschlagen. Spätfolgen dieser Erziehung waren, dass ich diese Gewalt weitergegeben habe und dafür später unzählige Verurteilungen kassierte.

Monate später kam ich aus der geschlossenen Abteilung, weil ich jetzt brav bin, wörtliches Zitat, und prompt wurde ich für ca. eineinhalb Jahre in die hiesige Landwirtschaft eingeteilt, ein zur Anstalt gehöriger Bauernhof mit 30 Kühen, zwei Pferden und unzähligen Schweinen. Die Arbeitszeit begann um fünf Uhr früh und endete um 20 Uhr am Abend, 7-Tage-Woche, keinen freien Tag, keinen Lohn. Im Heim gab es eine Tischlerei, eine kleine Schlosserei, die Betriebe waren bedingt aufnahmefähig, maximal fünf Lehrlinge. Schwere Unfälle gab es oft. In der Wäscherei arbeiteten vier Zöglinge, ca. 30 Zöglinge arbeiteten in der Gärtnerei und Landwirtschaft. 50 Zöglinge gingen in umliegende Betriebe, Gärtnereien oder zu Bauern arbeiten. Der Lohn wurde in der Regel von der Heimverwaltung eingezogen. Für eine Schachtel Zigaretten wurde auch Samstag gearbeitet. Sonst gab es keine Ausbildung oder Lehre. Meine Freizeit verbrachte ich meistens mit anderen Zöglingen in Aufenthaltsräumen, da war Rauchen erlaubt. Das Essen war einfach und billig, fast alles kam aus der eigenen Gärtnerei oder Landwirtschaft, viel UNICEF Waren, Fleisch gab es nur zu Ostern und Weihnachten. Im Speisesaal wurde gruppenweise gegessen. Der Eintritt erfolgte immer im Gänsemarsch, sprechen war strikt verboten. Während der Essensausgabe gab es immer Stress, einige wollten nichts essen, andere wollten tauschen, einige nahmen sich zuviel, die Letzten bekamen nichts, dann gab es Streit und Beschimpfungen. Und schließlich kam es zu Prügelorgien. Die Folgen all dieser Behandlung war massenhaft Flucht, wobei der Großteil der Jugendlichen straffällig wurde, einige kamen in die Landesheilanstalt nach Hall meistens wegen Suizid. Ausgang hatte ich nie, weil ich immer wieder flüchtete. Wenn es mir zuviel wurde, bin ich auf und davon. Vom 1. Stock springen war kein Hindernis.

Die Rückkehr nach einer Flucht war immer besonders schlimm. Nach Übergabe durch die Polizei folgte immer eine Art Spießrutenlauf, man könnte auch sagen VOGELFREI. Gefügige Jugendliche durften wahllos schlagen und treten. Erzieher sahen zu. Diese Tortur zog sich oft tagelang hin. Erzieher durften je nach Lust und Laune ihren Erziehungsmethoden freien Lauf lassen. Solche Paletten reichten von bis zu 20 Stunden an einem Fleck stehen, entweder abwechselnd auf einem Bein oder Bücher haltend über Beschimpfungen wie ‚Adolf hätte dich durch den Schornstein gejagt‘ bis hin zu Demütigungen, Schlägen, sexuellen Frondiensten, Glatze scheren und KZ-Kleider tragen. Haupterzieher M. war vermutlich gebürtiger Südtiroler, beim Schlagen hat er ständig italienisch geschimpft. Erzieher A. hat mich einmal in solcher KZ-Uniform fotografiert. Drei Erzieher schlugen nicht, davon war einer der D., sie bevorzugten aber Gespräche mit anschließenden sexuellen Handlungen. Der Heimarzt Sch., meines Erachtens war das kein Arzt, war unter den Zöglingen am meisten wegen seiner Brutalität gefürchtet. Erzieher H., P., B. und K. zeichneten sich als Schläger aus, ein nettes Wort gab es nicht. Am Bauernhof arbeiteten zwei Personen, keine Erzieher, deren Aufgabe darin bestand aufzupassen, dass keiner abhaut. Sie hatten das Recht, uns bei jeder Gelegenheit zu schlagen. D., für mich ein typischer Schleimer, wenn er mit jemandem sprach, rieb er sich immer die Hände und gab Freundlichkeit vor und konnte einem nicht in die Augen sehen. Einmal wurde ich von ihm bedroht, wenn ich was weitersage (sexuelle Beziehung), komme ich sofort nach Wien Kaiser-Ebersdorf. Geschlagen hat er nie. An Versprechungen hat er sich nicht gehalten. Am meisten Angst hatte er, seine Frau könnte über seine Homosexualität was erfahren. Nach ca. zwei Jahren holte mich D. in sein Büro und versicherte mir, in absehbarer Zeit könnte ich entlassen werden, aber ich müsste vorher noch einige Monate in Mils bei einem Bauern arbeiten.

Der Verdienst wurde von der Heimleitung eingezogen und sollte für die bevorstehende Entlassung zur Verfügung stehen. Gesagt, getan und aus der kurzen Zeit wurden zwei Jahre. Einspruch gab es nicht. Insgesamt war ich vier Jahre im Fürsorgeheim Kleinvolderberg, immer gearbeitet, ohne Lohn, ohne Versicherungsjahre. Als ich 18 war, sagte mir Erzieher A., ich bin frei und muss das Heim sofort verlassen, ohne jede Unterstützung mit einer blauen Arbeitsmontur und Gummistiefel. So stand ich vor der Tür und wusste nicht wohin, ohne Geld, ohne Arbeit, ohne Ziel. Eltern und Verwandte waren für mich gestorben, da führte kein Weg hin. Von der ganzen Welt im Stich gelassen, meiner Kindheit beraubt und fallen gelassen wie ein Stück Dreck. Unerziehbar entlassen, ausgenützt, betrogen, bestohlen, enttäuscht von Menschen, vor denen man Achtung haben sollte. So sehr ich mich anstrenge, über Positives kann ich beim besten Willen nichts berichten.

Nach meiner Heim-Entlassung hauste ich in Heustadeln oder in Schrebergartenhäuschen, gelebt habe ich von Diebstählen. Später habe ich in der Rossau (Mülldeponie) in einem alten Bus gewohnt und habe junge Leute von der Bocksiedlung kennengelernt, mit denen ging ich nachts einbrechen. Sonst hat sich um mich niemand gekümmert. Über meine Heimzeit habe ich nie mit anderen Personen gesprochen. Kleinvolderberg war für mich ein TABU-THEMA. Egal bei welcher Gelegenheit ich Kleinvolderberg erwähnte, stieß ich auf Ablehnung. Auswirkungen und spätere Folgen nach meinem Heimaufenthalt waren Misstrauen gegenüber allen Erwachsenen, Gewalttätigkeit bei der geringsten Beleidigung und Kriminalität aus Rache. Mit dem Gesetz in Konflikt kam ich vorwiegend wegen Körperverletzung und Eigentumsdelikten. Meine Heimzeit ist bei Prozessen nie zur Sprache gekommen. Die Richter interessierte nur der Vorstrafenakt. Heute kann ich versichern, eine Anhaltung in so einem Fürsorgeheim hat mit Erziehung nichts am Hut. Allein durch diese Vorgangsweise hat man mir ein Tor aufgestoßen für eine kriminelle Karriere.



[1] Schreiben von Hans Berger, 6.6. und 22.6.2010.