Über Gerhard Obholzer schreibt das Innsbrucker Stadtjugendamt an das Bezirksgericht: „Es hat sich gezeigt, dass der psychopathisch geartete Jugendliche, der bei der letzten Strafverhandlung erklärte, zu einer Besserung und inneren Umkehr entschlossen zu sein, wieder in seine alte Haltlosigkeit zurückgefallen ist. Die Mittel einer weiteren Heimerziehung reichen für den äusserst fluchtgefährlichen Mj. nicht mehr aus. Die Erziehung in einer geschlossenen Anstalt, wo auch eine Abteilung für Psychopathen zur Verfügung steht, erweist sich daher als dringend notwendig, um den Mj. doch noch auf den richtigen Weg zu bringen.“ (...)
Gerhards Vater unterstützt den Versuch seines Sohnes, den kurz bevorstehenden Präsenzdienst ableisten zu können: „Ich halte es für viel besser, wenn er einrückt, da beim Militär doch Zucht und Disziplin herrscht, er aber anderseits so viel Freiheit hat, daß er sich nicht als Sträfling fühlen muß. Mein Sohn stemmt sich hauptsächlich gegen den Zwang in den Erziehungsanstalten. (...) Obwohl Gerhard laut seiner Fürsorgerin U. „ein recht trauriges“ Zuhause hatte und „eine grosse Notlage in der Familie“ herrschte – „eine Geborgenheit und ordentliche Erziehung im Elternhaus hat der Mj. nie erlebt“ –, spielt dies zugunsten des Jugendlichen keine Rolle. (...) Ende April 1958 wird Gerhard Obholzer in das berüchtigtste und brutalste Erziehungsheim für Burschen in Österreich eingeliefert. 13 Monate verbringt er in dieser Anstalt, die den Charakter eines Jugendgefängnisses hat. Dort wird Gerhard nicht mit pädagogischen Mitteln geholfen, sondern es erfolgt seine weitere Pathologisierung. (...)
„In Kaiser-Ebersdorf ist es hart gewesen. Nach dem Antreten in der Früh hast du sozusagen gleich einmal das Messer in den Arsch gekriegt von irgendjemanden.“ Gerhard Obholzer bezieht sich auf die Verrohung einer ganzen Reihe von Mithäftlingen, welche die anderen im wahrsten Sinne des Wortes bis aufs Blut tyrannisieren. „In Kaiser-Ebersdorf in der Strafkompanie waren wilde Hunde, echte Kriminelle, die haben mit den Messern nicht lange gefackelt, auch gestohlen haben sie untereinander. Das Beste war, nichts zu sehen und die Goschn zu halten“, pflichtet ein Kollege von Gerhard Obholzer bei, der ebenfalls in Kleinvolderberg und Kaiser-Ebersdorf eingesperrt war. Die Betten seien voller Wanzen, das Essen „total unterm Hund“ gewesen. Oberstes Gebot ist Anpassung. Wer sich den Erziehern fügt und es schafft, den gefährlichen Burschen aus dem Weg zu gehen, kann in der Anstalt leidlich leben: in der Theatergruppe mitwirken, die auch auswärts auftritt, etwa im Fürsorgeerziehungsheim Eggenburg in Niederösterreich, und Sonntag nachmittags Ausgang haben. Wer sich nicht fügt, muss mit Schlägen und mehrtägigem Arrest in einer vergitterten Haftzelle mit einem Loch im Boden für die Notdurft rechnen. Diese Strafe erhält Gerhard Obholzer nach seiner Flucht nach Tirol, als er nach einem Stadtausgang in Wien nicht mehr zurückkehrt. In Handschellen wird er von Innsbruck zurücktransportiert. Die Anstaltsleitung setzt daraufhin auch eine „lange Anhaltung“ in der geschlossenen Gruppe fest. Sein Erzieher bemerkt: „Zögling fühlt sich ungerecht in der Anstalt angehalten, daher benützte er die erste Gelegenheit zur Flucht.“ (...)
Eine Spezialität des Direktors, so Gerhard Obholzer, habe darin bestanden, mehrere Erzieher, manchmal auch Zöglinge, zu organisieren, welche die von ihm angeordnete Prügelstrafe ausführen. Über seine Betreuer stellt Gerhard Obholzer fest: „Das waren keine ausgebildeten Erzieher, das waren Justizwachebeamte. Neun von zehn sind vom Krieg zurückgekommen. Konzept gab es keines, grad dass jeder Tag vorübergegangen ist, weil du hast mit den Erziehern gar nicht reden können, weil die haben dich angelogen von hinten bis vorne. Die waren fertig mit den Nerven. Wenn du sie blöd angeredet hast, dann haben sie dich windelweich hergeschlagen. Dann hat es geheißen, du bist die Stiegen hinuntergefallen. Wenn man was sagen wollte, war es gleich Verleumdung gegen Beamte. Die haben mit dir getan, was sie wollten. Ich habe gesagt, ich lasse mich lieber einsperren, da hast du mehr Ruhe, als in Kaiser-Ebersdorf zu sein.“ (...)
Zwei, drei Betreuer habe es gegeben, die halbwegs menschlich gewesen seien: „Ansonsten bist du unten nicht voll genommen worden.“ Wie unterschiedlich die Wahrnehmung der Erzieher sein kann, zeigen die Führungsberichte von Mai und Juni 1958. Betreuer H. und S. charakterisieren Gerhard als Faulenzer, Drückeberger sowie rechthaberisch und frech gegenüber Autoritätspersonen: „Wir haben nie richtige Fröhlichkeit bei ihm bemerkt. Sein Lachen ist von Hohn durchdrungen.“ Einen Monat später bemerkt sein neuer Erzieher Z., dass er sich in der neuen Gruppe sehr gut eingewöhnt habe und seine Führung und Arbeit passe: „Er ist immer lustig und guter Dinge. Gute Kontaktbereitschaft. Reinlichkeit ist gut. Gegen den Erzieher ist Gerhard immer höflich und nett. Seine Allgemeinführung ist sehr gut.“
Im Herbst nimmt seine Ablehnung der Anstalt jedoch wieder zu, da kein Ende der Anstaltsunterbringung in Sicht ist. Im Jänner 1959 bittet Gerhard Obholzer um seine frühzeitige Entlassung, da er bald 20 Jahre alt werde und nach seiner zweimaligen Rückstellung für den ersten April zur Ableistung seines Präsenzdienstes einberufen sei. Er möchte entlassen werden, weil „ich keinerlei Bekleidung besitze.“ Er schlägt vor, bei seinem Vater als Hilfsarbeiter zu arbeiten: „Ich möchte die Gelegenheit ausnützen, um zu einer Bekleidung und ein wenig Taschengeld zu kommen.“ Im neuen Jahr versucht Gerhard daher, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Nach anfänglicher Skepsis seines Erziehers, der ihm „Scheinführung“ vorwirft, hält dieser im April fest: Gerhard habe sich „wirklich sehr zu seinem Vorteil verändert. Er zeigt sich sehr verständig und versucht sogar andere Mitzöglinge zu einsichtsvollerem Verhalten zu bewegen. Er zeigt sich sehr dankbar.“ Dr. W. vom Innsbrucker Jugendamt lehnt jedoch zuerst Gerhards Unterfangen strikt ab, da der „häusliche Lebenskreis des Mj. für eine Unterbringung vollkommen ungeeignet erscheint“. Der Vater wird zur Untermauerung dieser Argumentation abermals als „psychopathische Natur“ beschimpft, dieses Mal wird aber auch die Mutter mit einer geradezu grotesken Zuschreibung bedacht: „Nach einem psychiatrischen Gutachten der Neurologie Innsbruck ist die Mutter wegen ihrer schweren Depressionszustände homosexuell geworden und daher als Lesbierin zu bezeichnen.“ Gerhard Obholzer und seine Geschwister werden infolgedessen in einem naziähnlichen Jargon als „erblich belastete Kinder“ verunglimpft: „Es scheint bei dieser Familie eine degenerative Artung der Sippe vorzuliegen.“
Das Stadtjugendamt lehnt nicht nur seine Entlassung ab, sondern ersucht die Anstaltsleitung in Kaiser-Ebersdorf nach Beendigung der Fürsorgeerziehung zumindest eine Zeit lang einen Arbeitsplatz in der Nähe der Anstalt zu besorgen, um weiteren Kontakt mit den Eltern zu unterbinden: „Dadurch wäre auch einer Voreingenommenheit von Seiten der Umwelt entgegengetreten, die in unserem Lande eher stärker ausgeprägt ist als in den dortigen Gegenden.“ Die Direktion in Kaiser-Ebersdorf schließt sich der Anregung des Jugendamtes an. Zwar habe sich das Verhalten von Gerhard Obholzer etwas gebessert, aber nur, weil er hoffte, vorzeitig entlassen zu werden. Angesichts der Diagnose „Spätverwahrlosung, Charakterneurose mit aggressiven und paranoiden Zügen“ und des Umstandes, dass er bestraft hatte werden müssen, „weil er tätowiert hatte“, wird Gerhards Gesuch abgelehnt. Dennoch hat er schließlich Glück, da ein Schotterwerk in Innsbruck Arbeitskräfte sucht, sodass das Stadtjugendamt seine Entlassung nun befürwortet. In seinem letzten Führungsbericht aus Kaiser-Ebersdorf heißt es: Gerhard wird im Juni 20 Jahre alt und „mit sehr guter Führung“ am 14. Mai 1959 zum Postenantritt beurlaubt. Da er kein „Eigengeld“ hat, erhält er eine Unterstützung von 100 Schilling und 57,85 Schilling Arbeitslohn ausbezahlt.
Als Gerhard sich in Innsbruck beim Schotterwerk meldet, stellt sich heraus, dass die Firma keine Unterkunft stellen kann. Daraufhin besorgt er sich eine Arbeit in einem Tiefbauunternehmen. Allerdings ist auch dort die Unterkunft eine Bruchbude, die Dr. W. vom Stadtjugendamt zwar als ausreichend für junge Menschen ansieht, aber als dauerhaften Wohnort dann doch als ungeeignet bezeichnet. Gerhard kommt schließlich bei der Großmutter in, so Dr. W., „sehr gedrängten Verhältnissen“ unter und versucht, eine leichtere Tätigkeit als Malerhilfsarbeiter zu finden. Für Dr. W. macht Gerhard einen noch sehr verwahrlosten Eindruck, dennoch erkennt er klar dessen „guten Ansätze endlich ein geordnetes Leben führen zu wollen und sich auch in die Grundsätze menschlicher Gesellschaft einzuordnen“. Dies lasse an und für sich eine positive Führung des Jugendlichen erwarten, aber: „Es wäre jedoch sicher falsch, im gegenständlichen Fall sich allzu grosse Hoffnungen zu machen, die dieser junge Mensch auf Grund seiner wesenmässigen, ererbten Anlage gar nicht erfüllen kann, obwohl sein Bemühen immer wieder zutagetreten wird.“
Ende Juni erhält Gerhard seine Entlassungsurkunde aus der Bundeserziehungsanstalt Kaiser-Ebersdorf mit den letzten aufmunternden Worten des Direktors geschickt: „Du hast in keiner Weise die Anweisungen der Anstalt befolgt, Wohnung bei den Großeltern genommen, das Dir ausdrücklichst verboten wurde, den zugewiesenen Arbeitsplatz nicht angetreten und beim Jugendamt nicht vorgesprochen. Die gef. Direktion hofft, daß Du endlich ein geordnetes Leben führen willst und immer einer Beschäftigung nachgehst und durchhältst. Jedenfalls wünscht Dir die Direktion alles Gute für die Zukunft.“